|Rezension| Nackt im Hotel – Jo Schück
Don’t judge a book by it’s title!
„Freund*innen sind nicht Teil unserer Biografie, sie sind unsere Biografie. Der Sandkastenfreund, die Schulfreundin, die Studienfreunde, die Freundin von der Arbeit, der Freund aus der (Alten-)WG, – sie alle erzählen eine Geschichte: unsere Geschichte.” (S.242f.)
Inhalt
Vergiss Liebe! Nur Freundschaft kann uns retten.
Jo Schück, bekannt als aspekte-Moderator und Kulturjournalist, wagt eine radikale These: In der heutigen Zeit, die von gesellschaftlichen Umbrüchen und Globalisierung geprägt ist, in der Sicherheiten gesellschaftlich abhanden kommen und klassische Familienstrukturen sich auflösen, gibt es nur eine beständige Bindung: Freundschaft. Sie gibt uns den Halt, den wir anderswo nicht mehr finden – weder in Liebesbeziehungen noch im familiären Umfeld.
Jo Schück kombiniert Kurzgeschichten zum Thema Freundschaft mit hervorragend recherchierten Gesellschaftsanalysen. Er spannt dabei den Bogen von allgemeinen Aussagen über das Wesen der Freundschaft, über Zeitgeist-Phänomene wie Instagram-Dates, Freundschaft plus und Single-Haushalte bis hin zum gesellschaftspolitischen Wert, der Freundschaft heutzutage eingeräumt werden sollte.
Mein Eindruck
Auch wenn Jo Schück sich die Veröffentlichung seines Debüts mit Sicherheit anders vorgestellt hat, könnte der Zeitpunkt der Veröffentlichung eigentlich auch als besonders kluger Marketingschachzug gelten: Gerade jetzt, da social distancing auf unserer aller Prioritätenliste ganz oben stehen muss und wohl die meisten von uns die physische Nähe unserer Freunde vermissen, legt sein Buch “Nackt im Hotel” mit dem leicht provozierenden Untertitel “Wie Freundschaft der Liebe (und Familie) den Rang abläuft” den Finger in die Wunde. “Nackt im Hotel” – was ist das überhaupt für ein Titel für ein seriöses Buch, das sich mit wissenschaftlichen Fakten zum Thema “Freundschaft” auseinandersetzt? Muss auf einem Cover in großen, gelben Buchstaben “nackt” prangen, damit die Menschen darauf aufmerksam werden? Vermutlich geht dieser Plan auf, denn auch ich wurde von dem Cover angezogen, allerdings nicht aufgrund des fancy Titels, sondern aufgrund der Diskrepanz zwischen Titel, der irgendeine Geschichte a la “Hang over” vermuten lässt und dem Untertitel, der bereits erste Hinweise auf eine sachliche Auseinandersetzung mit dem Thema “Freundschaft” liefert. Als Soziologin und bekennende Kurzgeschichten-Liebhaberin hat mich das Konzept der Verknüpfung von Gesellschaftsanalyse und kurzen Erzählungen letztlich so neugierig gemacht, dass ich dem Buch trotz und nicht wegen des fancy Titels eine Chance gegeben habe.
Außerdem war ich als verkappte Romantikerin natürlich gespannt auf die Argumente für seine These, dass die Freundschaft, der Liebe und der Familie den Rang abläuft. Sind Liebe und Familie nicht für die meisten von uns das höchste Gut? Diese Tatsache bestreitet Jo Schück auch gar nicht. Allerdings findet er sehr spannende Belege dafür, dass diese Priorisierung auf patriarchalen Strukturen fußt, die man ja generell mal überdenken könnte – findet Schück und finde ich. Neben unterhaltsamen Kurzgeschichten über verschiedene Aspekte und Modelle von Freundschaft (die zugegebenermaßen keine große Literatur sind, aber auch gar nicht sein müssen und die vermutlich stark autobiografisch beeinflusst sind) überzeugt “Nackt im Hotel” mit überraschend viel gut recherchierten Faktenwissen. Soziologische Theorien und historische Fakten nähren Schücks Plädoyer für die Freundschaft. Seiner Meinung nach sollten nicht nur wir persönlich sondern auch die Gesellschaft freundschaftliche Beziehungen mehr anerkennen, da sie z.B. zunehmend auch Aufgaben übernimmt, die früher die Familie übernommen hat.
Insgesamt argumentiert Jo Schück sehr schlüssig, mit einer großen Portion Selbstironie und persönlichem Bezug, wodurch dieses Buch für ein Sachbuch sehr unterhaltsam ist. Erfreulicherweise ist es auch kein Abgesang auf die Liebe, die Schück als Teil des Freundschaftsuniversums definiert (ist nicht im Idealfall der/die Partner/in auch der/die beste Freund/in?), sondern eben schlicht ein Aufruf dazu, der Freundschaft den höchsten Stellenwert in unserem Leben einzuräumen. Die engsten Freunde sind da, wenn der Partner es nicht mehr ist. Die engsten Freunde sind auch dann da, wenn ein Familienmitglied stirbt. Die engsten Freunde sind da, wenn du krank bist oder deinen Job verlierst. Die engsten Freunde sind immer da und genau das wird dem Leser in “Nackt im Hotel” auf sehr eindrückliche Art vor Augen geführt.
Mein Fazit:
Hinter “Nackt im Hotel” verbirgt sich mehr als der fancy Titel erahnen lässt: Jo Schück argumentiert mit historischen Fakten sowie soziologischen und philosophischen Theorien für eine Aufwertung der Freundschaft in unserer Gesellschaft. Die Freundschaft ist nicht nur in Corona-Zeiten die einzige Konstante, die uns Halt gibt und vor allem auch durch den demografischen Wandel eine Bedeutungszunahme erleben wird, derer wir uns am besten schon jetzt bewusst werden. Jo Schücks Debüt ist sehr kurzweilige, intelligente Unterhaltung, die nachdenklich stimmt. Klare Leseempfehlung!