|Rezension| Kontur eines Lebens – Jaap Robben

von | Sep 17, 2023 | 0 Kommentare

Ein Roman, den man nicht mehr vergisst 

Verlag: Dumont
Originaltitel: Schemerleven
Übersetzung: Birgit Erdmann
Gebundene Ausgabe: 20,00 Euro
Ebook: 15,99 Euro
Erscheinungsdatum: 15.08.2023
Seiten: 320

„Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass ich durch das Wenige, was ich wusste, auch den Rest von ihm kannte. Und vielleicht mochte ich am meisten, wie ich mich in seinem Beisein veränderte. Was ich mir plötzlich zutraute.“ (S.104)

Inhalt

Die junge Floristin Frieda wächst in den Sechzigerjahren in einem streng katholischen Umfeld auf. Als sie an einem späten Winternachmittag einen zugefrorenen Fluss betritt, weiß sie nicht, dass sich gleich alles für sie verändern wird. Auf dem Eis trifft sie den verheirateten Otto. Sie erleben eine Liebe, die stürmisch beginnt und schicksalhaft endet: Frieda wird schwanger – ein Skandal in der Welt, in der sie sich bewegt. Und so darf sie ihrem heimlichen Kind nie Mutter sein. Jahrzehntelang behält sie die Erinnerungen an diese Episode ihres Lebens für sich. Doch die Trauer um das verlorene Kind bleibt, trotz der späteren Heirat, trotz des Sohns, den sie noch bekommt. Im Alter von einundachtzig Jahren ist Frieda plötzlich wieder allein. Der stille Kummer kehrt mit Wucht zurück. Erst da wagt sie, sich ihrer Geschichte zu stellen – und sie zu teilen.

Mein Eindruck

In der Regel vergesse ich die Namen der Protagonisten eines Romans, den ich gelesen habe, ziemlich schnell. Anders ist es mir mit Frieda und Otto ergangen – den Hauptfiguren aus Jaap Robbens “Die Kontur eines Lebens”. Diese Figuren und ihre Beziehung zueinander sind mir so nah gegangen, dass es unmöglich ist, ihre Namen wieder zu vergessen.

Der Niederländer Jaap Robben beginnt die Geschichte mit Friedas Einzug im Pflegeheim. Nachdem ihr Mann überraschend gestorben ist, obwohl sie die Gebrechlichere von Beiden war, kann die 81-Jährige nicht mehr alleine leben und wird von ihrem Sohn ins Pflegeheim gebracht. Noch erschüttert vom Tod ihres Mannes und voller Unwohlsein über ihre neue Lebenssituation beginnt sie über ihr bisheriges Leben nachzudenken. So besteht dieser Roman aus zwei Erzählzeiten: Friedas Leben in der Gegenwart und ihren Erinnerungen an ihre Vergangenheit. Der Schreibstil überzeugt durch seine Klarheit. Bei Jaap Robben ist kein Wort zu viel und trotzdem gelingt es ihm, den Leser völlig einzunehmen.

Bemerkenswert an diesem Roman ist nicht nur das Thema, dessen sich der Autor widmet: Es geht um die Folgen einer “verbotenen” Liebe in einer streng katholisch geprägten Region. Die Geschehnisse lesen sich wie ein Horrorbericht längst vergangener Zeiten. Wenn man sich bewusst macht, dass es gerade mal 60 Jahre her ist, dass Frauen in einem europäischen Land solchen Repressalien ausgesetzt waren, scheint das schier unglaublich. Beeindruckt hat mich aber auch mit wie viel Einfühlungsvermögen der Autor aus der Sicht einer Frau erzählt. Ich musste zwischenzeitlich nachschauen, ob es sich wirklich um einen männlichen Autor handelt und Jaap nicht doch vielleicht ein weiblicher Vorname ist. Vor allem wie Friedas stille Trauer, die Jahrzehnte später zu Tage tritt, beschrieben wird, hat mich sehr berührt. Sie ist eine interessante Figur mit Ecken und Kanten – genau das macht ihre Authentizität aus. Sie ist keine klassische Sympathieträgerin, sondern das Produkt ihrer Erlebnisse in der Vergangenheit. Der Originaltitel des Romans lautet übrigens  “Schemerleven”, was mit “Dämmerleben” übersetzt wird. Ich würde das als Leben im Dämmerzustand verstehe, was den Inhalt des Romans noch etwas besser auf den Punkt bringt als “Kontur eines Lebens”.

Friedas Geschichte steht sinnbildlich für das Schicksal vieler Frauen – nicht nur in den Niederlanden. Allein deshalb ist dieser Roman lesenswert, weil er sehr eindringlich auf Missstände aufmerksam macht, die in der heutigen Zeit so weit weg wirken, aber leider immer noch viel näher sind, als man meint.

Mein Fazit:

“Kontur eines Lebens” ein sehr eindrucksvoller, wunderbar erzählter Roman, der lange nachwirkt und für die Ängste und Nöte der älteren Generation sensibilisiert ohne pathetisch oder klischeebehaftet zu sein. Für mich ist dieser Roman einer der besten dieses Jahres.

Vielen Dank an den Dumont Verlag für dieses Rezensionsexemplar.
 
 
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