|Rezension| Nebenan – Kristin Bilkau

von | Jul 7, 2022 | 0 Kommentare

Zwiespältiges Leseerlebnis

Verlag: Luchterhand
Gebundene Ausgabe: 22,00 Euro
Ebook: 17,99 Euro
Erscheinungsdatum: 08.03.2022
Seiten: 288

„Sie wünscht sich, Mutter zu sein, doch traut sich nicht zu, mit einer Gruppe Teenager zu töpfern. Sie hat Sehnsucht nach ihren Freundinnen, hat Sorge, dass sich durch den Umzug die Verbindungen auslösen, doch wenn das Telefon klingelt, schiebt sie es vor Schreck ein Stück von sich we, statt ranzugehen.(…) Sie wünscht sich mehr Leute im Laden, doch ist erleichtert, wenn die Bestellungen online eingehen.” (S.135f.)

Inhalt

Ein kleiner Ort am Nord-Ostsee-Kanal, zwischen Natur, Kreisstadt und Industrie, kurz nach dem Jahreswechsel. Mitten aus dem Alltag heraus verschwindet eine Familie spurlos. Das verlassene Haus wird zum gedanklichen Zentrum der Nachbarn: Julia, Ende dreißig, die sich vergeblich ein Kind wünscht, die mit ihrem Freund erst vor Kurzem aus der Großstadt hergezogen ist und einen kleinen Keramikladen mit Online-Shop betreibt. Astrid, Anfang sechzig, die seit Jahrzehnten eine Praxis in der nahen Kreisstadt führt und sich um die alt gewordene Tante sorgt. Und dann ist da das mysteriöse Kind, das im Garten der verschwundenen Familie auftaucht.

Sie alle kreisen wie Fremde umeinander, scheinbar unbemerkt von den Nächsten, sie wollen Verbundenheit und ziehen sich doch ins Private zurück. Und sie alle haben Geheimnisse, Sehnsüchte und Ängste. Ihre Wege kreuzen sich, ihre Geschichten verbinden sich miteinander, denn sie suchen, wonach wir alle uns sehnen: Geborgenheit, Zugehörigkeit und Vertrautheit.

Mein Eindruck

Ich habe kein einfaches Verhältnis zu den Büchern von Kristin Bilkau. Ich habe alle drei Romane gelesen. “Eine Liebe, in Gedanken” hat mir richtig gut gefallen. Mit “Die Glücklichen” konnte ich mich thematisch nicht richtig anfreunden. “Nebenan” wiederum hat mich sehr gefesselt, allerdings das Ende enttäuscht. Was alle drei Romane dennoch lesenswert macht, ist Kristin Bilkaus Schreibstil, der sich wohl am besten mit einer stillen Eleganz beschreiben lässt. Kurze, schlichte Sätze, die ihre Wucht durch den Subtext entfalten, sind typisch für die Autorin und machen für mich den besonderen Reiz ihrer Geschichten aus.

In “Nebenan” gibt es aber eine weiteren reizvollen Aspekt, nämlich der Aufbau des Romans als eine Art Kriminalfall. Zwei sehr unterschiedliche Nachbarin, die eine Mitte 30 mit unerfülltem Kinderwunsch, die andere eine Ärztin um die 60, die kurz vor ihrer Pensionierung steht, bemerken das Verschwinden einer Nachbarsfamilie: Vater, Mutter, zwei Kinder sowie ein Ungeborenes sind seit mehreren Monaten nicht mehr in ihrem Haus. Beide Protagonistinnen machen sich unabhängig voneinander Gedanken über die Ursache des Verschwindens. Das ist der rote Faden, der den Leser bzw. die Leserin durch die Geschichte führt, allerdings ist er eigentlich nicht das Thema des Buches. Vielmehr geht es – entsprechend des Titels des Romans – um das, was “nebenan” passiert bzw. nicht passiert. Es geht um Nachbarschaft und das (Nicht-)Verhältnis und Kontaktlosigkeit der Menschen, die nebeneinander wohnen, zueinander, um das Aussterben von Kleinstädten und den Klimawandel. Aber nicht nur diese großen Themen werden verarbeitet, sondern auch die kleinen, menschlichen: Frauenfreundschaft, junge Partnerschaft, jahrzehntelange Partnerschaft und unerfüllter Kinderwunsch mit all seinen Begleiterscheinungen. Nichts davon wird auserzählt, vieles nur angedeutet – eine Kunst, die Kristin Bilkau ganz ausgezeichnet beherrscht. Überhaupt ist die Geschichte an sich eher handlungsarm und in einem melancholischen Ton erzählt – nichts davon habe ich als störend empfunden. Ich brauche keine ständigen Plottwists oder Überraschungsmomente und der melancholische Ton passt hervorragend zur Thematik.

Was mich allerdings bei “Nebenan” wirklich frustriert hat, ist das unbefriedigende Ende. Ich möchte an dieser Stelle nicht ins Detail gehen, um nicht zu spoilern, aber für mich wirkt der Roman mit diesem Ende unfertig und nicht rund. Der rote Faden wird nicht bis zum Ende aufgedröselt, sondern bleibt ein großes, rotes Knäuel. das ich vielleicht nicht bis zum Ende entwirrt hätte, aber zumindest noch eine großes Stück weiter.

Mein Fazit:

Mein zwiespältiges Verhältnis zu Kristin Bilkaus Romanen, setzt sich auch bei “Nebenan” fort. Ich habe dieses Buch wirklich gern gelesen und fand den krimiartigen Aufhänger mit der verschwundenen Nachbarsfamilie großartig. Ich mag, wie Kristin Bilkau schreibt und zwischen den Zeilen mit den Leser:innen kommuniziert. Und trotzdem bleibt die Enttäuschung über das Ende, das für mich kein Ende war, aber eben auch kein offenes Ende, sondern eher gar kein Ende. Den vierten Roman der Autorin werde ich natürlich trotzdem wieder lesen.

 
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